„Mein Kind tickt immer wieder komplett aus – was kann ich nur tun?“
Wie du als Mutter aus der Dauerspirale von Wutanfällen und Erschöpfung aussteigen kannst
Wenn der Familienbesuch zum Kraftakt wird
Annika, 36, erinnert sich noch genau an den gestrigen Abend:
Sie war mit ihrer sechsjährigen Tochter Marie bei ihren Eltern zum Essen eingeladen. Auch ihr Bruder mit Familie war da. Marie sagte, sie habe Hunger und wolle etwas essen. Annika bat sie, noch zehn Minuten zu warten, weil Oma noch nicht fertig war.
„Ich will aber jetzt was essen!“ – Marie drängte. Annika versuchte, geduldig zu bleiben. Doch dann kippte die Stimmung: Marie bekam einen heftigen Wutanfall, schrie, beschimpfte ihre Mutter mit Scheißmama.
Der Bruder mischte sich ein: „Du lässt ihr viel zu viel durchgehen.“ Die Mutter stimmte zu. Annika fühlte sich kritisiert und allein gelassen. Schließlich trug sie Marie in ein anderes Zimmer – dort schlug das Mädchen auf sie ein und beruhigte sich erst nach einer Stunde. Am Ende hatten beide geschrien und geweint.
„Ich habe immer Angst vor ihrem nächsten Wutanfall. Sie tickt zurzeit ständig aus. Ich bin mit ihr alleine und habe bald keine Kraft mehr.“
Wutanfälle sind kein Zeichen von „schlechter Erziehung“
Ein Kind, das so reagiert, ist in Not.
Oft kommt dann der gut gemeinte Ratschlag:
„Zeig ihr Grenzen! Sie muss lernen, dass sie nicht das Sagen hat.“
„Grenzen zeigen“ wird dann leider häufig mit psychischem oder körperlichem Druck verwechselt. Das kann zwar bewirken, dass das Kind still wird – aber nicht, weil es das Verhalten verstanden und aufgelöst hat, sondern aus Angst vor Strafe.
Das Problem: Die Ursache bleibt bestehen. Die Not bleibt bestehen.
Die wichtige Frage: Worum geht es hier wirklich?
Kinder sind Gefühlsseismographen.
Sie reagieren auf die innere Anspannung der Erwachsenen – oft ohne, dass diese sich dessen bewusst sind.
Die entscheidenden Fragen sind:
- Geht es gerade um ein Grundbedürfnis? Manche Kinder reagieren stark auf den Blutzuckerabfall. Dann hilft etwas Kleines.
- Steckt wirklich Hunger dahinter oder ist da ein Muster zu erkennen beim Kind?
- Geht es wirklich um das Eis, den Hunger oder das Spielen – oder um etwas Tieferes?
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Welche Gefühle und Bedürfnisse stecken hinter dem Verhalten?
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Was hat zu dieser Situation geführt?
Annikas unsichtbare Last
Annika ist seit der Trennung vom Vater von Marie alleinerziehend.
Sie hat keine regelmäßige Unterstützung, ist erschöpft und oft überfordert.
Die Angst vor dem nächsten Wutanfall nimmt ihr die Freude am Zusammensein mit ihrer Tochter.
Weil sie weiß, wie sehr Marie unter der Trennung gelitten hat, versucht Annika, ihr weiteren Frust zu ersparen. Doch ihre eigenen Bedürfnisse bleiben auf der Strecke. Anerkennung für all das, was sie täglich leistet, bekommt sie kaum.
Was Marie wirklich sucht
Marie spürt die innere Anspannung ihrer Mutter.
Mal ist Annika ruhig, dann schreit sie plötzlich.
Marie fühlt sich verunsichert – und sucht Nähe, Verbindung, Bestätigung.
Ihre Strategie: Wünsche äußern, fordern, Aufmerksamkeit einfordern.
Den Wünschen von Marie kommt Annika oft nach, auch wenn nicht immer mit einem guten Gefühl.
Kurzfristig bessert sich Maries Stimmung, wenn die Mutter darauf eingeht. Doch die tiefe Sehnsucht nach bedingungsloser Annahme bleibt.
Gleichzeitig möchte Marie selbstständiger werden – doch sie fürchtet, dadurch die Nähe zu ihrer Mutter zu verlieren. Dieser innere Konflikt verstärkt ihre Anspannung.
Heilung passiert außerhalb des Konflikts
Wutanfälle sind wie ein Ventil – sie entladen Spannung, lösen aber nicht die Ursache.
Heilung passiert in der Stärkung der Beziehung, nicht in der hitzigen Situation selbst.
Marie braucht Erwachsene, die ihre eigenen Gefühle regulieren können, Verantwortung übernehmen und das Kind nicht mit ungelösten Themen belasten.
6 Schritte, wie Annika aus der Spirale aussteigen kann
1. Raus aus der Selbstverurteilung
Verantwortung übernehmen heißt nicht, sich die Schuld zu geben. Schuldgefühle erhöhen den Stress, Verantwortung gibt dagegen Handlungsmacht zurück.
2. Blick auf das Positive lenken
Täglich bewusst schöne Momente mit Marie wahrnehmen – am besten schriftlich.
Ein Babyfoto griffbereit haben kann helfen, die Liebe in stressigen Momenten wieder zu fühlen.
3. Verbindende Momente schaffen
Kuscheln, spielen, gemeinsam kochen oder backen.
Zweckfreies Spiel ohne Leistungsdruck stärkt die Bindung enorm.
Machtumkehrspiele – bei denen das Kind „gewinnt“ – helfen, Spannungen abzubauen.
4. Zuhören – wirklich zuhören
Auch wenn es gerade nicht „passt“.
Nach einem Streit Gefühle spiegeln und Verständnis zeigen. Hilfreich sind Geschichten oder Bildkarten zu Gefühlen.
5. Entlastung organisieren
Alleinerziehend sein ist Schwerstarbeit.
Es ist kein Zeichen von Schwäche, Hilfe anzunehmen – im Gegenteil.
6. Eigene Grenzen wahren
Klare Haltung und liebevolle Konsequenz geben Kindern Sicherheit.
Wünsche des Kindes dürfen abgelehnt werden, ohne Vorwürfe – und Kinder dürfen darüber wütend sein.
Kinder wollen kooperieren
Wenn ein Kind wie Marie immer wieder in den Widerstand geht, steckt fast immer ein unerfülltes Bedürfnis dahinter – und oft auch die Notwendigkeit, dass die Erwachsenen ihre eigenen Themen anschauen.
Je mehr Verbindung, Klarheit und Orientierung Annika in den Alltag bringt, desto seltener wird Marie „ausflippen“.
Nicht der Wutanfall selbst ist das Problem – er ist nur das sichtbare Symptom.
Die Lösung liegt in der Beziehung, im Verständnis füreinander und in der Bereitschaft, sowohl die Bedürfnisse des Kindes als auch die eigenen ernst zu nehmen.
Der Artikel ist sehr lesenswert..Genau Alltag ist nicht einfach zu meistern,daran scheitert es oft…Der Alltagsstress ist teils von uns selber oder von Schule hausgemacht..Das heißt wir sollten wirklich nur bei uns selber anfangen,ob wir in dem Hamsterrad noch mitlaufen möchten..Schule greift ins Privatleben immens ein,besonders wenn das Kind nicht nach Plan funktioniert..Vg Gerlinde
das kann ich nur unterschreiben.
Sehr guter Artikel,mir ergeht es wie Annika, seit 10 Jahren, so alt ist meine Tochter. Oftmals bin ich nur am Ende, weil sie auch bei Ärzten wutanfälle bekommt, in wirklich unangenehmen Situationen. Alle anderen können gehen, aber ich muss bleiben. Weil ich sie liebe, aber oftmals fällt es mir schwer. Ich werde den Artikel öfters lesen um mich immer wieder daran zu erinnern. Danke
Hmmm… weiß nicht. Interessanter Artikel aber hilft mir nicht so weiter. Mein Sohn hat eine kleine Koordinationsstörung und war als Baby schon ein echter Wutbürger. Wenn er etwas will, dann sofort. Es kann eigentlich kein Schrei nach Liebe sein, denn auch beim Knuddeln drückt er uns sofort weg wenn er keine Lust mehr hat. Ich dachte immer es ist weil ihm seine Bewegungen schwer fallen und er wütend über sich selbst ist, aber er wird sogar wütend wenn er etwas guckt und ihm plötzlich in den Sinn kommt doch lieber eine andere Sendung zu schauen. Aus heiterem Himmel. Drohungen helfen nicht, Strafen helfen nicht, Meckern oder laut werden überhaupt nicht… ich habe mir angewöhnt ihn auf den Boden zu setzen und ihn mit seiner Wut alleine zu lassen. Irgendwann steht er dann auf und sagt „ich bin wieder lieb.“ Ob das richtig ist weiß ich nicht, aber ich habe keine Lust mich von so einem kleinen Kerlchen zur Wut verleiten zu lassen. Dafür haben wir uns wohl doch zu gern. Wenn es mal richtig laut wird- ich hasse Geschrei- setze ich mir zwischendurch Kopfhörer vom Baumarkt zur Geräuschedämmung auf 🙉 Gerade beim Anziehen wenn er keine Lust dazu hat ist das eine Wohltat. Erklären und reden hilft bei ihm leider überhaupt nicht. Er fordert, fordert, fordert…. Wenn Papa sich kümmert ist es anders. Manchmal etwas Gemecker, aber mehr nicht. Ich beobachte genau was er anders macht, aber da ist nichts zu finden. Papa erklärt und der Kleine hört zu. Mich lässt er erst gar nicht reden. Ich hoffe einfach, dass es eines Tages von allein aufhört und er mir sagen kann wo das Problem liegt. Im Moment ist es sogar so, dass wenn er wieder mies drauf ist und Papa oder die große Schwester dazu kommt und fragt was denn los sei, kommt die Antwort „Mama ärgert mich!“ Tja… so ist das 🤷🏻♀️ Mama sein ist schwer.
Bei Annika wird es nie besser, egal wie sklavisch sie den Vorschlägen folgt. Warum? Ganz einfach weil sie Entlastung braucht und es keine gibt.