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Wie alles begann – Oder: Seit wann gibt es eigentlich Trageschulen?

Ende der Achtziger Jahre: Mein erstes Tragetuch war eine Baumwollwindel!

„Ich bin gleich fertig, dann kann ich Dich auf den Arm nehmen“, sagte ich zu Tim, dem 1 ½ jährigen Jungen der Familie, bei der ich arbeitete.
Ich holte gerade Essen aus der Tiefkühltruhe und wollte es auf dem Herd aufwärmen.

Vor kurzem hatte ich mein Abitur gemacht und  arbeitete als Helferin für Körperbehinderte bei den Ambulanten Diensten. Einer meiner Arbeitseinsätze war bei einer Familie, bei der beide Eltern schwer körperbehindert waren und die zwei gesunde Kinder hatten. Meine Aufgaben lagen vor allem im Einkaufen, Putzen und Kochen. Um die Kinder kümmerten sich die Eltern sehr liebevoll selber.
Aber es blieb natürlich nicht aus, dass vor allem der Kleine auch gerne mal zu mir wollte, so wie eben jetzt.

„Arm, Arm,“ bettelte Tim und hob die Ärmchen hoch.

Ich atmete aus und überlegte.

Ich hatte  schon gesehen, dass Kinder in einem Tuch auf der Hüfte getragen werden. Das müsste doch gehen.
Ich nahm eine Stoffwindel, legte sie mir über die Schulter und verknotete sie an der Hüfte. Dann schob ich den Knoten nach oben, nahm Tim und setzte ihn in den Windelhüftsitz. Das klappte sogar und ich konnte weiterarbeiten. Tim schmiegte sich an mich und ich war mächtig stolz auf meine Kreativität, auch wenn meine Tragekonstruktion nicht besonders bequem war.

Ohne es zu wissen, hatte ich den Grundstein für meine Tragebegeisterung in den kommenden Jahren gelegt.



Anfang der Neunziger Jahre: Genauso will ich mein Baby tragen!

Mein Freund und ich waren gerade für ein paar Tage bei einem Festival auf einem alten Rittergut, das inzwischen als Kommune genutzt wurde und redeten mit Almut, einer jungen Frau, die ihr 6 Wochen altes Baby Paula dabei hatte. Paula war etwas unruhig, da legte Almut sie sich auf den Rücken, schwang ein Tragetuch drüber und knotete es vor der Brust fest. Sie stand danach leicht schaukelnd vor uns und wir unterhielten uns weiter, während die kleine Paula schon wenige Augenblicke später friedlich im Tuch schlummerte.

Der Anblick der schlafenden geborgenen Paula berührte mich tief. Mir wurde klar, wenn ich ein Baby haben würde, dann würde ich es auch so tragen.

10 Monate später war es bereits soweit:
Ich wurde zum ersten Mal Mutter.

In der Schwangerschaft hatte ich mich bereits theoretisch viel mit dem Tragen von Babys beschäftigt.
Ich las „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ von Jean Liedloff, die den ununterbrochenen Körperkontakt in der Säuglingszeit als einen Schlüssel zum Glück sieht.  Natürlich wollte ich dem Glück meines Kindes nicht entgegenstehen und so viel tragen wie möglich. Wir besuchten Almut und ich ließ mir die Rückentrageweise genau zeigen. Mein Freund Marko lernte etwas später auf der Straße Martine kennen, die gerade ihr Kind auf den Rücken in einer Trage trug. Seine Frage, wie sich das denn trägt, beantwortete sie, indem sie ihm kurzerhand die Trage mitsamt Kind umschnallte.

Da Martine ihren Sohn zu Hause geboren hatte und ich ebenfalls eine Hausgeburt plante, bot sie mir an, mir Fotos von der Geburt ihres Sohnes zu zeigen. Bei dem Besuch schenkte sie mir auch eine einfache Trage, so wie sie in den Achtziger Jahren üblich war. Bei Didymos bestellte ich mir ein Tragetuch, 3,4 m, das Längste, was es damals gab. Es kam mit einer Anleitung auf einem dunkellila Papier, so dass ich kaum erkennen konnte, was dort dargestellt wurde. Das sollte wohl das Kopieren der Anleitung verhindern.

Im Jahre 1992 waren wir noch weit vom Internet entfernt und es war ziemlich schwierig, an brauchbare Bindeanleitungen zu kommen. Didymos legte eine Liste von Müttern bei, die bereit wären, das Binden zu zeigen.
Zu dumm. Keine in meiner Nähe.

Meine Hebamme jedoch zeigte uns noch eine Trageweise mit dem Tuch vor dem Bauch. Sah ganz einfach aus. Einen Kinderwagen hatten wir nicht. Ich fühlte mich gut gerüstet. Das Kind konnte kommen.

Von wegen!

Nach der Geburt kam erst einmal die Ernüchterung.

Vor unserem ersten Ausflug habe ich lange gebraucht, bis ich mich ausreichend erinnerte, wie meine Hebamme uns die Bindeweise erklärt hatte.
Wo sollte noch mal der Knoten sitzen und wie herum sollte ich das Tuch drehen?
Nach einer Weile saß mein kleiner Sohn Timo  zwar im vor dem Bauch im Tuch, es fühlte jedoch sich weder wirklich sicher noch fest an.

Aber ich wollte unbedingt mein Baby tragen, und zwar im Tuch. Basta! Also übte ich, Tag für Tag, hartnäckig.

Ich übte die Bauchtrage meiner Hebamme, bis ich mich damit wohl fühlte. Dann nahm ich mir die dunklen Didymosanleitungen vor und übte die Rückentrage, bis ich mich auch damit wohl fühlte. Am Anfang auf dem Bett, später auch im Stehen.

In einem Buch von Regina Hilsberg fand ich weitere Anleitungen, die durchprobiert wurden, mit Baby und oft erst einmal mit einer Puppe. Denn manchmal wurde Timo das Tragetraining zuviel, weil ich noch nicht geübt genug war und mein Perfektionismus mich immer weiter versuchen ließ.

Am Anfang nahmen wir auch manchmal die schlabberige Kängeruhtrage zu Hilfe, wenn Timo Nähe brauchte, aber weder er noch ich die Ruhe zum Binden hatten. Nachdem er eingeschlafen war, hing er da ziemlich schief drin. Sicherheit fühlte sich anders an.

Trotzdem war ich froh, dass wir sie hatten, denn sie war unser Notnagel damals, bis ich sie nicht mehr brauchte, weil ich das Tuch schnell und sicher binden konnte. Irgendjemand schenkte uns auch einen Glückskäfertragesack, den besonders mein Freund gern benutzte. Ergonomische Tragehilfen gab es damals noch nicht, der Glückskäfersack war noch die beste der verfügbaren Tragehilfen.

Ich sah das Dilemma, in dem viele Eltern steckten, an mir selbst. Wir wollten tragen, liebten es, auch unser Kind mochte es. Aber die Schwierigkeiten, die in den ersten Wochen das Tragen erschwerte, nahmen manchen Eltern die Lust daran und sie setzten das Baby doch lieber in den Kinderwagen oder Zuhause in die Wippe.

Tragen müsste einfacher werden, Bindetechniken schneller verfügbar für interessierte Eltern, dachte ich.

“Hey, wie wird das gebunden?”

Sah ich unterwegs eine Frau mit einer Bindeweise, die ich nicht kannte, sprach ich sie an und ließ mir die neue Technik zeigen.
So lernte ich mehr und mehr Trageweisen kennen, ebenso wie andere Mütter, die vom Tragen so fasziniert waren wie ich. Das Thema Tragen hatte mich gepackt und ich sammelte alles, was ich darüber bekommen konnte, Bücher, Zeitungsausschnitte, Diplomarbeiten,  Fotos …

Erfuhr ich von einer neuen Tragehilfe, bestellte ich sie mir.

Wenn ich ein Tragetuch sah, das ich noch nicht kannte, fragte ich, wo es herkam.

Da ich keinen Kinderwagen benutzte und mein Kind auch zu Hause viel trug, bekam ich eine große Sicherheit mit dem Tuch. Bald sprachen mich Frauen an, die wissen wollten, wie ich diese Trageweise binde oder wie ich mein Kind auf dem Rücken bekomme. Ich zeigte es bereitwillig, merkte aber, dass es Zeit braucht, das Wissen, was ich mir inzwischen erarbeitet hatte, zu teilen.

Gerade mit dem Tragen eines Babys auf dem Rücken hatten viele Mütter Schwierigkeiten.

Dadurch kam mir die Idee, einen Kurs anzubieten, indem Mütter und Väter Tragetechniken kennenlernen und üben könnten. Ich entwarf einen Flyer und legte ihn in Bioläden, Hebammenpraxen und Familienbildungsstätten aus.

Tatsächlich kamen interessierte Anrufe und ich startete meinen ersten Kurs auf dem Dachboden unseres Hauses. Das machte mir viel Spaß und so hatte ich vor allem das Gefühl, wirklich in Ruhe die Techniken zeigen zu können. Ich sah auch, an welchen Problemen das Tragen, vor allem das Rückentragen scheiterte. Also überlegte ich mir Übungen, die den Eltern die Sicherheit geben sollten.

Eine Freundin erzählte mir von der Ausstellung „ Lieve Lasten“ in Amsterdam, die vom Tragen von Babys in verschiedenen Kulturen handelte. Ich fuhr mit meinem kleinen Sohn nach Amsterdam und war beeindruckt. So viele Bilder, Exponate und Filme nur über das Thema Tragen, toll.

In Berlin gab es damals eine Gruppe des Liedloff Continuum Networks, das die Idee hatte, eine Gruppe, ein Clan, zu sein, in der sich Eltern gegenseitig unterstützen. Dort lernte ich Susanne, eine Teilnehmerin des Netzwerks kennen.

Durch sie kam ich zu einem Uni-Tutorium, das sich „Kinder der Zukunft“ nannte, und in dem wir uns mit der Bedeutung des Körperkontakts für die Entwicklung des Menschen beschäftigten.
Ich war damals die einzige, die bereits ein Kind hatte. Die anderen gingen noch theoretisch an ein bedürfnisorientiertes Leben mit Kind heran, waren aber froh, endlich mal jemand aus dem Lager der Familien zu haben.
Zu der Zeit war ich bereits schwanger mit meinem zweiten Kind. Karin, eine Frau, die vorher in dem Uni-Tutorium gewesen war, war auch schwanger und rief mich an, weil sie eine Trageberatung von mir brauchte. Ich besuchte sie zu Hause und zeigte ihr und ihrem Freund Thomas einige Trageweisen.

Die Geburtsstunde der ersten Trageschule

Nach der Geburt unserer Kinder im März und April 95 vertiefte sich unser Kontakt und wir entwickelten gemeinsam einen Tragekurs, der über ein ganzes Wochenende ging. Karin hatte Psychologie studiert und ihre Diplomarbeit über das Tragen von Babys geschrieben. Wir ergänzten uns wunderbar und nannten den Kurs Die Trageschule.

Das Konzept kam sehr gut an. Unser Ziel war, dass die Mütter und Väter, es waren nämlich auch viele Väter bei unseren Kursen, sich nach dem Wochenende sicher genug fühlten, um im Alltag verschiedene Trageweisen anwenden zu können. Vor allem die Rückentrageweise übten wir ausführlich, denn wir sahen in ihr einen Schlüssel zu einem entspannteren Leben mit Baby. Auch habe ich festgestellt, dass viele deswegen aufhörten zu tragen, wenn das Baby vor dem Bauch zu schwer wurde. Auf dem Rücken kann man ein Baby viel länger tragen und es ist auch für das Baby ab einem bestimmten Alter viel interessanter.

Über die Trageschule lernten wir viele andere interessante Frauen und Männer kennen, die ebenso vom Tragen begeistert waren wie wir. Mit einigen entwickelte sich eine Freundschaft, so wie mit Bettina Attenberger, die heute die Trageschule NRW leitet.

Jede von uns brachte ihre eigenen Erfahrungen mit. Unser Wissensfundus an Bindeweise erweiterte sich immer mehr. Wir probierten auch viel aus. Geht es, ein Kind in der Kreuztrage auf dem Rücken zu binden? Welcher Knoten ist der beste?  Und wie trägt sich ein elastisches Tragetuch? Das hatte ich ganz neu entdeckt und mir aus den USA schicken lassen.
Ich erzählte  den anderen von der Ausstellung Lieve Lasten, die vor ein paar Jahren im Rijksmuseum in Amsterdam gelaufen ist und die mir sehr gefallen hatte. Warum nicht die Ausstellung nach Berlin bringen, dachte ich und schrieb das Rijksmuseum an. Zuerst bekam ich eine positive Rückmeldung vom Museum. Sie schienen durchaus interessiert. Nachdem sie aber mit bekamen, dass das anscheinend nur ein paar mittellose Mütter in Berlin waren, die ihre Ausstellung haben wollten, hörte ich nichts mehr von ihnen.
Nun gut, dachte ich, dann machen wir es eben selbst.

Die Ausstellung “Ins Leben tragen”

Im Frühling 1997 nach über einjähriger Vorbereitung war es dann soweit: wir eröffneten die Ausstellung „ Ins Leben tragen“ im Haus der Begegnung in Neukölln. Zusätzlich hatten wir ein Rahmenprogramm über die gesamte Dauer der Ausstellung von 6 Wochen auf die Beine gestellt, zu dem wir Referenten aus dem In- und Ausland eingeladen hatten. Dr. Kirkilionis hielt einen Vortrag, ebenso wie Franz Renggli und Thomas Harms.

Die Arbeit wurde von unserer Euphorie getragen, verdient haben wir damit nichts. Aber es hat uns alle damals sehr eng zusammengebracht  und wir wussten, wir machen etwas Sinnvolles. Ein Teil der Frauen hatte sich noch weiter mit dem Thema Tragen beschäftigt und eigene Trageschulen gegründet. Ein anderer Teil der Frauen wandte sich anderen Themen zu, wie es im Leben eben so ist.

Geblieben ist das Wissen, mit unserer Leidenschaft dazu beigetragen zu haben, dass das Tragen ein viel selbstverständlicherer Teil des Lebens mit Baby ist als noch vor wenigen Jahrzehnten.

Dieser Text entstand für ein Projekt der Trageschule NRW.
Ein Interview mit Bettina Attenberger von der Trageschule NRW findest du hier:

“Das Tragen ist mein Rettungsring gewesen!”


Wenn du noch mehr darüber wissen willst, warum tragen so gut für Babys kannst, dann schaue dir diesen Artikel an:

Warum es so gut ist, ein Baby zu tragen!

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Ein Baby will getragen sein*
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Regina Hilsberg
Rowohlt Verlag
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Dagmar

Dagmar Gericke von der Feeling Family®: Eltern-Coach, Theaterpädagogin, Kommunikationstrainerin und Mama von 4 Kindern. "Kinder zu bekommen ist nur der Anfang des Elternseins. Die wirkliche Aufgabe liegt daran, uns unser Leben mit unseren Kindern so zu gestalten, dass sich alle in der Familie angenommen und geliebt fühlen. Und das schließt uns selbst mit ein." Willst du mehr über mich wissen? Dann schaue hier: https://feelingfamily.com/about/